Ziele und Arbeitsweise einer analytischen Selbsterfahrungsgruppe

Das Ziel einer analytischen Selbsterfahrungsgruppe ist das Analysieren, d.h. das Aufdecken und Verstehen unbewusster seelischer Abläufe. Sie entstehen im Laufe des Lebens und führen zu Erlebens- und Verhaltensweisen nach mehr oder weniger festgelegten Mustern, die manchmal hilfreich, oft aber störend und einengend sind.

Kern der Arbeit in einer Selbsterfahrungsgruppe ist der Austausch der Gruppenteilnehmer über das, was sie gerade im Leben beschäftigt und bewegt, besonders über das, was in ihnen während der Gruppensitzung vor sich geht. Ausgelöst durch die Situation in der Gruppe, durch die Erfahrung mit den Teilnehmern in der Gruppe und dem Leiter, wird jeder in den Gruppensitzungen Gefühle, Phantasien, Hoffnungen, Befürchtungen und Reaktionen erleben, die denen im sonstigen Leben entsprechen. Alles darf und soll möglichst unzensiert ausgesprochen werden - entsprechend dem analytischen Gebot der „freien Assoziation“. Die Selbsterfahrungsgruppe stellt einen geschützten „Raum“ zur Verfügung, in dem ohne die sonst übliche Rücksicht auf Konventionen die Freiheit für neue Erfahrungen und Gefühle genutzt werden kann.

Dieser Versuch, sich möglichst unzensiert zu äußern, ist für die meisten Teilnehmer neu und für niemanden einfach; z. B. wegen der Sorge vor den Reaktionen der anderen Teilnehmer, seien es Zeichen unerwarteter Sympathie oder der Ablehnung und des Missfallens. Diesen Hemmungen, sich frei zu äußern, nachzugehen, führt meist dazu, in sich selber vieles von dem zu entdecken, was man zuerst einmal den anderen zuschreibt. Gelingt es, die im übrigen Leben gewohnte „Zensur“ aufzugeben, kann man sich selber in einem anderen, neuen Licht sehen und bis dahin verborgene Seiten an sich erkennen, sie in ihrer Bedeutung verstehen - und auch schätzen lernen. Gefühle von Scham und Trauer können spürbar werden, Wut und Aggressivität, Hass und zerstörerische Impulse können zum Vorschein kommen. Aber auch angenehme Gefühle wie Zuneigung und Sympathie können in neuer Weise auftauchen und den Einzelnen und die Gruppe bewegen.

Eine wesentliche Aufgabe für die Teilnehmer der analytischen Selbsterfahrungsgruppe besteht darin, diese Gefühle zuzulassen, auszuhalten und wertzuschätzen, auch wenn sie nicht zum bisherigen Bild von sich selbst passen. Dazu gehören Mut zu gegenseitiger Offenheit und der Wille, etwas über sich herauszufinden. Beide sind wichtige Voraussetzungen für die Arbeit in der Gruppe. Diese Fähigkeit und Bereitschaft, sich zu öffnen, braucht Zeit zum Wachsen.

Die meisten Menschen kommen in eine Selbsterfahrungsgruppe, weil sie in ihrem Leben nicht (mehr) oder nicht gut genug zurechtkommen. Manche mussten erst körperlich krank werden, um sich genauer und intensiver mit sich, ihrer Geschichte, ihrer Persönlichkeit, ihrer Seele zu befassen. Da viele Menschen seelisches Leiden als einen Makel betrachten, den sie verbergen möchten, sind manche, bevor sie den Weg in eine Selbsterfahrungsgruppe finden, einen langen Weg durch und über körperliche Krankheiten gegangen - unter Umständen mit vielen Symptomen, Untersuchungen, Diagnosen, medikamentösen Therapieversuchen oder sogar Operationen. Auch während der Arbeit in der Gruppe können alte und/oder neue Krankheitssymptome auftreten, deren Sinn (= Bedeutung) es aufzudecken gilt.

Manche Teilnehmer kommen auch direkt wegen ihrer Schwierigkeiten mit und in Beziehungen in eine Selbsterfahrungsgruppe, z. B. dann, wenn sich Probleme immer wiederholen, aus denen es scheinbar keinen Ausweg gibt.

Das Wesen der psychoanalytischen, d.h. aufdeckenden, Arbeit liegt darin, dass sie Einsichten ermöglichen soll, durch die der einzelne sein Leben anders gestalten kann. Grundlage für diese Einsichten ist die Erkenntnis, dass scheinbar unerklärliche Symptome, Verhaltensweisen, Gefühlsreaktionen eine unbewusste Bedeutung haben, die es aufzudecken gilt, denn diese Symptome (= äußere Anzeichen für innere Konflikte) haben Schlüsselfunktion für das Erkennen der eigenen Persönlichkeit. Das Ziel der analytischen Selbsterfahrungsgruppe ist nicht, Symptome möglichst schnell zum Verschwinden zu bringen, z. B. durch gegenseitige Ratschläge und Tipps, sondern zu erkennen, worin ihre Bedeutung besteht - um sie dadurch überflüssig zu machen.

Eine fruchtbare Arbeit in der Selbsterfahrungsgruppe setzt die regelmäßige Teilnahme voraus. Das bedeutet, dass für den einzelnen Teilnehmer die Gruppe für eine bestimmte Zeit im Leben Vorrang hat vor vielen anderen Dingen.

Die Schweigepflicht ist in den Vereinbarungen bereits ausführlich erklärt. Außerdem gilt, dass die Teilnehmer außerhalb der Gruppensitzungen untereinander keinen persönlichen Kontakt haben sollen. Der Wunsch danach kann während der gemeinsamen Arbeit entstehen und besonders aufgrund der Erfahrung, „verstanden zu werden“, stark werden. Solche Wünsche sollen nicht umgesetzt, aber auch nicht verschwiegen werden, sondern sie sind wichtiges Thema in der Gruppe. Kommt es dennoch einmal zu einem Kontakt außerhalb der Gruppe, soll auch dies Thema in der Gruppe werden.

Die Arbeit in einer Selbsterfahrungsgruppe ist nicht leicht; sie stellt Gewohntes in Frage, aktiviert Gefühle, Wünsche und Befürchtungen. In manchen Partnerschaften und anderen Beziehungen der Teilnehmer kommt es durch die neuen Erfahrungen (des an der analytischen Selbsterfahrungsgruppe Teilnehmenden) zu „Bewegungen“, Turbulenzen, Veränderungen, die nicht nur ungewohnt, sondern manchmal auch belastend und ängstigend sein können. Es ist nicht nur unvermeidbar, sondern sogar Ziel der analytischen Arbeit, verborgene Konflikte zu erkennen, diese freizulegen, um konstruktiv mit ihnen umgehen zu können. Angehörige und Bezugspersonen von Teilnehmern können schwierige Wirkungen der analytischen Arbeit mitbekommen. Bei allen - direkt und indirekt Beteiligten kann Skepsis bis hin zur Ablehnung dieser Arbeit entstehen, vor allem wenn die Vorstellung besteht, dass lange im Verborgenen vorhanden Probleme und Konflikte nicht durch die analytische Arbeit aufgedeckt worden seien, sondern erst jetzt dadurch entstanden. Durch die Arbeit in einer analytischen Selbsterfahrungsgruppe wird häufig die wichtige Frage aktuell, ob es in Beziehungen ein Entwicklungspotenzial und einen gemeinsamen Wunsch nach Entwicklung gibt.

Während der Arbeit kann es zu überraschenden Erkenntnissen kommen, die eine - meist trügerische - Hoffnung entstehen lassen, durch spontane, das Leben verändernde Handlungen Probleme schnell lösen zu können. Daher gilt für die Zeit der Teilnahme in einer analytischen Selbsterfahrungsgruppe, dass alle weitreichenden Entscheidungen vorher zum Thema in der Gruppe werden sollen.

Die Dauer der Arbeit in der Selbsterfahrungsgruppe wird nicht vorher festgelegt. Den Zeitpunkt, zu dem ein Teilnehmer die Arbeit in der Gruppe beendet, bestimmt er selbst. Es ist sinnvoll, sich innerlich auf einige Jahre der Arbeit in der Gruppe einzustellen. Der Wunsch, mit der Arbeit in der Gruppe aufzuhören, kann sehr unterschiedliche Gründe haben. Oft entsteht er in kritischen Phasen, in denen z. B. eine Auseinandersetzung mit schwierigen Themen, mit anderen Teilnehmern der Gruppe oder dem Leiter ansteht. Ein Grund kann auch Enttäuschung über die Gruppe sein. Besonders wenn die Erkenntnisse aus der Gruppenarbeit nicht mehr mit der gewohnten, äußeren Lebensrealität vereinbar scheinen, ist die Tendenz zum Abbrechen groß. Diese Tendenz kann sich auch in einer Hinwendung zu anderen - vermeintlich leichteren und angenehmeren - Behandlungswegen äußern, z. B. stationären Kuraufenthalten oder Behandlungsformen, in denen konkrete Ratschläge im Vordergrund stehen. Es ist immer sehr wichtig, über diese Gefühle und Wünsche ausführlich zu sprechen, anstatt die Arbeit in einer Gruppe unwiderruflich aufzugeben bzw. abzubrechen. Grundsätzlich sollte das Beenden der Arbeit längere Zeit (in der Regel einige Monate) vorbereitet und in seiner Bedeutung für den Einzelnen und die Gruppe klar werden. Ein Zurückkehren in die Gruppe, aus der man ausgeschieden ist, ist in der Regel und vor allem nicht kurzfristig nicht möglich.  

Die wesentlichen Ergebnisse der Gruppenarbeit können sein:

  • Die Erfahrung, dass es für die eigenen Schwierigkeiten, Verhaltens- und Erlebensweisen Gründe gibt, die in ungelösten und unbewussten Konflikten aus der eigenen Lebensgeschichte liegen, und dass es in jedem eine Tendenz gibt, Problematisches zu wiederholen, solange diese tieferen Konflikte nicht erkannt sind;
  • Das Erkennen unbewusster Muster, wodurch es möglich wird, Entwicklungen und Entscheidungen des bisherigen Lebens in einem anderen Licht zu sehen;
  • Die Erfahrung, dass man in der Gruppe nicht allein bleiben muss mit seinen Problemen und dass die Hilfe der anderen nicht in Ratschlägen besteht, sondern in einem Austausch über das, was jeder in der Gruppe und mit jedem einzelnen Teilnehmer und dem Leiter erlebt;
  • Die Erfahrung, dass in der Gruppe durch die Beteiligung aller etwas Wertvolles entsteht, was keiner der Teilnehmer für sich alleine schaffen kann und in dem jeder Teilnehmer eigene Anteile wiederfinden kann, verbunden mit der Erfahrung in einer Gruppe, dass man andere Menschen auf eine gute Weise Hilfe brauchen kann;
  • Die Erfahrung, dass durch eine Zunahme an Einsichten die Übernahme von Verantwortung für sich und sein Handeln selbstverständlicher Ausdruck von Autonomie wird, und dass das Leben dadurch nicht unbedingt einfacher, aber besser, weil stimmiger wird.