Abstinenz in der psychoanalytisch - psychotherapeutischen Arbeit

Abstinenz in der psychoanalytisch – psychotherapeutischen Arbeit

Die folgende Beschreibung von Abstinenz für die psychotherapeutische Arbeit sollte aus meiner Sicht nicht nur für die psychoanalytische Behandlung und die von ihr abgeleiteten Verfahren Gültigkeit haben, sondern gilt im Wesentlichen für alle Formen von Psychotherapie.

 

Definition von Abstinenz in der psychoanalytisch – psychotherapeutischen Arbeit

Die therapeutische Beziehung muss bestimmt sein von Respekt und Wertschätzung für den Patienten. Dazu gehört sowohl der Verzicht des Psychotherapeuten auf konkrete persönliche Beeinflussung des Lebens des Patienten im Sinne einer Fremdbestimmung als auch der Verzicht auf die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse des Psychotherapeuten in und durch die Behandlung.

Der Begriff: Abstinenz bedeutet wörtlich: Enthaltsamkeit. Die Notwendigkeit von Abstinenz ergibt sich aus der Besonderheit der psychotherapeutischen, insbesondere der psychoanalytischen Beziehung und der gemeinsamen Aufgabe (vgl. dazu auch den Artikel im Hessischen Ärzteblatt 2-2012 über Abstinenz in der Ärztlichen Tätigkeit (http://www.aerzteblatt-hessen.de/pdf/haeb12_081.pdf).

Worin besteht nun diese Besonderheit?

Alles, was in der therapeutischen Beziehung geschieht, hat zusätzlich zu der sichtbaren, direkt erfahrbaren Realität noch eine tiefere, symbolische Bedeutung. Das gilt tendeziell für alle therapeutischen Beziehungen.

Eine Besonderheit der aufdeckenden Arbeit, sowohl der analytischen als auch - wenn auch nicht in derselben Weise - tiefenpsychologischen Arbeit liegt nun darin, dass sie ausdrücklich diese therapeutsiche Beziehung (die Gedanken, Phantasien, Erfahrungen in der therapeutischen Situation: Das Zuhören, das Verstanden-werden etc.) und deren tiefere Bedeutung zum Verstehen nutzt

Das ist ein implizites Versprechen an jeden Patienten, den ein Therapeut in Behandlung nimmt - und das muss auch so sein, dann ohne diese Aussicht ist es keine analytische Arbeit. Diese Form des Verstehens ist wesentlich für die aufdeckende, psychoanalytische Methode und die damit arbeitenden Verfahren.

Wird zu irgendeinem Zeitpunkt die therapeutische Beziehung nicht mehr zur Therapie benutzt oder wird in Aussicht gestellt, dass diese Regel irgendwann einmal nicht mehr gelten soll, sondern die Beziehung in eine "private", d.h. zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse umgewandelt wird oder werden kann, stellt dies einen "Verrat" an den Interessen des Patienten dar, selbst wenn dieser sich das in einer bestimmten Situation wünschen sollte.

Verantwortungsvolle Psychotherapeuten wissen, dass das Entstehen solcher Wünsche "normal" ist und insofern keine Besonderheit darstellt, die ein Aufgeben der therapeutsichen Aufgabe rechtfertigen könnte.    

In letzter Konsequenz bedeutet Abstinenz für den Psychoanalytiker also, dass er sich ausschließlich auf die therapeutische Aufgabe - dem Patienten das Verstehen zu ermöglichenkonzentriert,  und sein Tun nur an dem orientiert, was direkt und indirekt diesem  Behandlungsauftrag entspricht.

Für den Patienten bedeutet das, dass er seine Wünsche (inkl. der Realisierung seiner Beziehungswünsche zum Psychoanalytiker/Psychotherapeuten) der analytischen (psychotherapeutischen) Aufgabe unterordnen muss, weil das Ziel der Analyse nicht die Befriedigung dieser Wünsche ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Wünsche schlecht oder falsch wären! Sie entstehen im Zusammenhang mit der psychoanalytischen Arbeit in der Beziehung; sie können und müssen für diese genutzt werden, weil sie Ausdruck seelischer Vorgänge des Patienten sind (seiner Wünsche, Hoffnungen Ängste etc.) und natürlich auch Folge seiner Lebensgeschichte. 

Die Beschränkung des Psychoanalytikers/Psychotherapeuten auf die Aufgabe, dem Patienten Erkenntnis zu ermöglichen, bedeutet, dass er sich jeglicher konkreten Einflussnahme auf das Leben des Patienten enthalten soll, auch dann, wenn der Patient ihn darum bittet. Das heißt, dass der Analytiker zum Beispiel keine Ratschläge gibt, außerhalb der psychotherapeutischen Situation keinen Kontakt mit dem Patienten unterhält, in keinerlei geschäftlichen Beziehungen zu ihm steht. Das bedeutet auch, dass ein bereits bestehender privater Kontakt zwischen Therapeut und Patient eine aufdeckende psychotherapeutische Arbeit ausschließt.

Abstinenz gilt also, wenn auch in unterschiedlichen Formen, sowohl für den Psychoanalytiker/Psychotherapeuten als auch für den Patienten - sowohl während der konkreten psychotherapeutischen Arbeit als auch darüber hinaus (Das Unbewusste ist zeitlos!) Denn die Behandlung dient nicht der Befriedigung von Wünschen durch die und während der psychotherapeutischen Arbeit, sondern ausschließlich dem klar definierten Ziel der Arbeit.

Diese klare analytische Einstellung zur Abstinenz wird leider von vielen Psychoanalytikern / Psychotherapeuten nicht geteilt, vielleicht auch nicht verstanden - leider sehr zum Schaden der Patienten! (Eine Fülle von erschütternden Erfahrungsberichten geschädigter Patienten zeugt davon!)

Stattdessen wird immer wieder von Abstinenzfristen nach Abschluss der Psychotherapie  gesprochen und darüber verhandelt, nach welcher Zeit denn private Kontakte und auch eine Liebesbeziehung möglich sein sollen.

Während eine Abstinenzfrist für manche andere therapeutische Beziehungen durchaus ihren Sinn haben kann, passt ein solches Konzept aber nicht zum Anspruch der psychoanalytischen Aufgabe und Arbeit, sondern ist aus analytischer Sicht ein Unding. 

Warum?

Analytisch arbeitende Psychotherapeuten, die Abstinenz für eine befristete Angelegenheit halten, machen ihren Patienten ein unausgesprochenes, unbewusst  verführend wirkendes Angebot. Das bedeutet für den Patienten, dass er sich nicht darauf verlassen kann, dass der Psychotherapeut seine Arbeit und den damit verbundenen Verzicht - und damit den Patienten selber - ernst nimmt und respektiert. Das kann zwar zeitweise sehr verführerisch sein, kann sogar vom Patienten bewusst "gewollt" werden, hat aber sehr ernste - und manchmal katastrophale - Folgen für den Patienten

Die Tatsache, dass Abstinenz für beide Beteiligten von großer Bedeutung ist, ändert nichts daran, dass im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung einzig und allein der Psychotherapeut persönlich und juristisch für die Einhaltung der Abstinenz verantwortlich ist.

Sinn und Ziel von Abstinenz in der psychoanalytisch – psychotherapeutischen Arbeit

Das Ziel der Abstinenz ist, die für die psychotherapeutische, insbesondere die psychoanalytische Arbeit notwendige Offenheit und Freiheit des Patienten nicht zu beeinträchtigen durch irgendeine Art von privater Beziehung, von sonstiger Abhängigkeit oder Einflussnahme auf das Leben des Patienten/Klienten.

Gleichzeitig dient die Abstinenz dazu, die für eine gute psychoanalytische Arbeit notwendige eigene Freiheit und Unabhängigkeit des Psychotherapeuten zu erhalten und nicht durch direkte oder indirekte Verbindungen mit und zum Patienten zu verlieren.

Die Einengung des Abstinenzbegriffes auf das Verbot manifest sexueller Beziehungen, wie sie in der Gleichsetzung des Begriffs „Missbrauch“ mit „sexuellem Missbrauch“ zum Ausdruck kommt, ist gefährlich, weil damit die grundsätzliche Bedeutung aller Beziehungserfahrungen (mit dem Psychotherapeuten) für den Analysanden verkannt wird – und jede Erfahrung des Patienten in einer Psychotherapie ist auch Beziehungserfahrung.

Bescheinigungen, Rezepte, Berichte

Vor dem Beginn einer geplanten Behandlung oder während einer solchen Behandlung erstelle ich ausschließlich folgende Bescheinigungen und Berichte:

Konkret bedeutet Abstinenz, dass ich für Patienten, die bei mir in Behandlung sind, keine anderen Bescheinigungen, d.h. auch keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, keine Bescheinigungen für Rentenversicherungsträger ausstelle  und keine Berichte oder Gutachten schreibe.

Der Grund dafür liegt darin, die Freiheit des Patienten zu erhalten, sich mir gegenüber frei zu äußern - was er möglicherweise nicht mehr tun kann, wenn von seinen Äußerungen abhängt, wie eine gewünschte Bescheinigung ausfällt. 

In der Regel stelle ich auch keine Überweisungen an andere Ärzte aus (mit Ausnahme von Überweisungen, die ggfs. in direktem Zusammenhang mit der psychotherapeutischen Arbeit notwendig werden);

Für Patienten, die in meiner psychotherapeutischer Behandlung sind, stelle ich in der Regel keine Rezepte aus (was nicht bedeutet, dass eine medikamentöse Behandlung in bestimmten Situationen nicht sinnvoll sein kann und dann – wie alles andere auch – Thema der psychotherapeutischen Arbeit wird).




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